Lieblingsplatte Festival 2018
Stereo Total “Musique automatique”
Minimalismus, Synthiepop und französischer Akzent im ZAKK
von Andrej Schenk
Ist Stereo Total Hipstermusik? Wahrscheinlich ja. Stereo Total war schon Hipstermusik als es noch Hipster als solche überhaupt noch nicht gab und die zukünftigen Dutt-Träger noch Lätzchen statt Retro-Fliege trugen und sich mit Kinderbrei vollgeschmiert haben. Vor ca. 20 Jahren erschien „Musique automatique“. Zu dieser Zeit wurde man in der deutschen Musiklandschaft gerade der vorherrschenden Techno-Dominanz überdrüssig, der HipHop fing an Aggro zu werden, der Indierock war noch in der Selbstfindungsphase und die Popmusik war damit beschäftigt die Boy- und Girlgroups aus der Ralph-Siegel-Retorte in die DSDS-Bohlen-Petrischale umzufüllen. Stereo Total war da eine richtige Schatzkiste für Menschen, die nach „etwas anderem“ gesucht haben. Es ist ultraironische, minimalistische Musik, die ihre Ironie produktiv einsetzte. Und diejenigen, die es damals versäumten die Platte des Duos live zu erleben, konnten sich auf dem „Lieblingsplatte-Festival 2018“ auf einen Abend aus witziger und ausgefallener Mischung aus Dub, Chanson, Kitsch, Camp und selbsterklärter „Eklektik“ mit den Originalinstrumenten von 2001 freuen.
Françoise Cactus und Brezel Göring sind eine Show für sich. Ihr Zwei-Personen-Antipop liefert ein instrumentelles Potpourri aus einem Keyboard, Bassgitarre, dem kleinstmöglichen Drumset und einem Sampleset, der voraufgezeichnete Samples der letzten 20 Jahre abspielt. Die Experimentierfreudigkeit an Instrumenten aus dem Sperrmüllcontainer ist flüssig, impressionistisch und selbsterklärt „eklektisch-improvisant“. Es sind relativ simple, poppige Beats, die durch die Snare, sowie den Gesang von Cactus umrandet und gleichzeitig durch den minimalistischen CASIO-Synthiesound mit dem Zusatz an Samples veredelt werden.
Die Vielfalt der Samples ist bei dem allgemeinen Instrumentalminimalismus recht beeindruckend. So wird „Exakt neutral“, ein musikalisch recht monotones Stück, durch den ausgefallenen Synthiesound zu etwas andersartigem und ziemlich abgefahren. Aber das ist ja das gewisse etwas des ST-Sounds: etwas eingängig-simples zu nehmen und ein Arrangement aus exzentrischem Sound und Cactus'schem Wortwitz zu schaffen, welches das Ganze einige Stufen weiter hinausträgt und nie eintönig werden lässt. So klingen sie mal spacig-Bowie-esk (Roboter), mal poppig-chansonesque (Liebe zu dritt) und natürlich auch mal herrlich asynchron (Wir tanzen im 4-Eck). Das es technisch (oder auch musikalisch/gesanglich) nicht grade „Bohemian Rhapsody“ ist, sollte klar sein. Und auch dass man auf der Bühne nicht grade Stagedive-Action erwarten kann, ist ebenfalls selbsterklärend. Aber die Imperfektion der Zwei-Tasten-Mishpultbeats war ja schon immer ein Teil des Konzepts.
Apropos herrliche Asynchronität: der Gesang von Françoise Cactus, die mittlerweile 54 ist, klingt genauso wie vor 20 Jahren. Das heißt jetzt: nicht unbedingt gut aber leidenschaftlich und straight. (Und natürlich hat sie beim Singen immer noch den stimmlichen Charme der französischen Austauschschülerin, die einem die Schönheit der Sprache nahebrachte. Aber vielleicht ist auch nur der Akzent.)
Cactus ist der Inbegriff einer Antidiva: sie strahlt keine Spur von Glamour aus, sondern vermittelt eher den Eindruck einer Babushka, die gleich Kekse und Kuchen servieren wird und die man an der REWE-Kasse nicht wiedererkennen würde. Und gleichzeitig ist sie das beste Beispiel dafür dass die menschliche Stimme den Alterungsprozess am besten übersteht, denn die Babushka hält immer noch beim Singen nebenbei einen ordentlichen Drumbeat.
Ein bisschen befürchtet man, dass ST einfach auf die Bühne geht, das Album abspielt und geht. Aber die Beiden liefern gewissenhaft eine Zugabe, die mindestens genauso lang ist wie der Hauptauftritt. Mit Bonis in Form von „Ich bin nackt“, „Schön von hinten“ uvm. Und eine besonders nette Geste: beim Abgang stellt sich das Duo nicht in die Mitte der Stage, sondern überlässt die Bühnenpräsenz den spontan aus dem Publikum geholten Backgroundtänzern, die ihnen anschließend um den Hals fallen.
Um es mit Worten von Göring selbst zu sagen: „Wir haben bessere Platten gemacht. Mitreißendere und funkygere – aber es ist nun mal die Platte die heute hier gespielt wurde.“ Und das war auch völlig in Ordnung so.
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Rüdiger Schwenn
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